Der Chamisso-Preis schafft sich ab. Die Trägerin des Literaturpreises für „herausragende auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“, die Robert-Bosch-Stiftung, begründete die Einstellung mit der nicht unzutreffenden Aussage, Schreibende mit Migrationsgeschichte könnten inzwischen viele andere Preise gewinnen. Geschäftsführerin Uta-Micaela Dürig sagte: „Viele dieser Autoren wollen heute nur für ihre literarischen Leistungen gewürdigt werden, und nicht wegen ihres biografischen Hintergrunds.“
Bei diesem Satz sollte man aufhorchen, denn er ist ein Zeichen, dass die Organisatorinnen auf die Schriftsteller hören. Der Chamisso-Preis entstand in den 1980er Jahren, angetrieben von Harald Weinrich, u.a. Professor für Deutsch als Fremdsprache. Die Auszeichnung förderte ursprünglich „deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache“. Sie war also die mit Preisgeld aufgeladene Verkörperung des zweischneidigen Kompliments „Sie können aber gut Deutsch!“ Das mag im letzten Jahrhundert angemessen gewesen sein; tatsächlich hat sich aber durch den Preis oder vielleicht nur nebenbei viel geändert – „Gastarbeiterliteratur“ ist als Begriff durch „Migrationsliteratur“ oder den schauderhaften Euphemismus „Chamissoliteratur“ ersetzt worden; Autoren, die woanders geboren sind, zeigen Präsenz auf Nominierungslisten und in den Medien und vertreten Deutschland im Ausland. Was diese aber nicht mehr brauchen, ist eine ins Gönnerhafte neigende Auszeichnung für ihre (fremd-)sprachlichen Leistungen.
Literaturpreise schaffen Aufmerksamkeit, keine Frage. In Großbritannien wurde der jetzige Baileys Prize für Romane von Schriftstellerinnen ins Leben gerufen, nachdem 1991 keine der sechs Nominierten für den Booker Prize Frauen waren. Inzwischen ist der Baileys Prize wirtschaftlich sehr erfolgreich; die Autorinnen auf der Shortlist können damit rechnen, viele neue Leserinnen zu gewinnen. Der Unterschied zum Chamisso-Preis? Die Initiative kam von innen: von Frauen (und Männern) innerhalb des Literaturbetriebs. Die Preisjury besteht seitdem ausschließlich aus Frauen. Der Chamisso-Preis wurde von Menschen ohne Migrationserfahrung gegründet; in der diesjährigen Jury sitzen sechs Biodeutsche und Feridun Zaimoglu. Der Preis ist – natürlich wohlmeinend – von oben herab entstanden und wird noch heute so verliehen.
Über die Jahre hat die Bosch-Stiftung versucht, den Chamisso-Preis zeitgemäßer zu gestalten. Die Kriterien wandelten von der nichtdeutschen Muttersprache zum prägenden Kulturwechsel; 2015 ging die Auszeichnung an Esther Kinsky und Uljana Wolf, zwei in Deutschland geborene Schriftstellerinnen, die üblicherweise von dem Migrantenetikett verschont bleiben. Das war ein großer und richtiger Schritt. Die Stiftung schreibt dazu auf ihrer Webseite: „Die gesellschaftliche Realität zeigt heute, dass eine stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache spricht. Für die Literatur dieser Autoren ist der Sprach- und Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistisch prägend, sie ist jedoch zu einem selbstverständlichen und unverzichtbarem Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur geworden.“
Ebenso richtig. Nur ist diese Botschaft nicht in der Gesellschaft angekommen. Immer noch müssen die Ausgezeichneten den braven Ausländer spielen, immer noch wird ihr Anderssein betont, die sprachliche Bereicherung, die sie einbringen. Nicht so sehr die Bosch-Stiftung sondern Moderatoren und Journalisten stellen immer noch dieselben Fragen, auf die die Ausgezeichneten immer nur dieselben Phrasen geben können: „Ich habe mich in die deutsche Sprache verliebt“, „auf Deutsch schreiben ist für mich befreiend“, „ich musste mir die deutsche Sprache aneignen, um zu überleben...“ Anstatt zuzugeben, dass es schlicht bizarr wäre, auf die besseren Verdienstmöglichkeiten auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt zu verzichten, wenn man schon mal seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz hat.
„Chamisso-Autoren“ sitzen zusammen auf Podien und sollen übers Ausländersein reden und nicht übers Schreiben. Sind keine Autoren wie alle anderen, sollen keine Geschichten erzählen wie alle anderen, sondern nur Geschichten übers Ausländersein. Haben sprachliche Würze zu sein in der faden deutschen Suppe. Die deutsche Sprache ist in dieser Erzählung der rettende Anker; die deutsche (oder eben österreichische oder schweizerische) Gesellschaft das Mutterschiff. Die Preisträger gehören einer eigenen Kategorie an: einer literarischen Parallelgesellschaft, von der Mehrheit erschaffen. Seit Jahren aber rebellieren Autoren dagegen. 2008 schrieb Preisträger Saša Stanišić über „drei Mythen vom Schreiben der Migranten“: als philologische Kategorie, mit monothematischen Stoffen und als sprachliche Bereicherung. Mehrere Preisträger und Nichtpreisträger haben sich kritisch geäußert, weigern sich, den „Kanakenbonus“ (Imran Ayata) auszunutzen oder die „Berufsfremde“ (Terézia Mora) zu spielen. Bloß: welch schreibender Mensch lehnt €15,000 Preisgeld ab? Da zeugt die Entscheidung, Autoren nicht mehr für ihren biografischen Hintergrund anzuerkennen von Respekt für ihre Wünsche.
Jörg Sundermeier schrieb in der taz, ein Preis, der „Deutsch endlich in einer weltoffenen Literatur“ ankommen lässt sei nötiger denn je. Das stimmt sogar, aber kann nicht jeder Literaturpreis, der für alle Deutschschreibende offen ist, genau das erreichen? Ist nicht ein Bachmannpreis, ein Deutscher Buchpreis für Schreibende mit anderen Herkunftssprachen oder ethnischen Hintergründen viel mehr Wert als diese paternalistische Auszeichnung, die das Gespräch in eine einzelne Richtung lenkt? Es liegt an den Verlagen, marginalisierte Autorinnen zu entdecken und zu fördern, sie für Preise einzureichen – denn marginalisiert sind noch viele, und der Weg zum Verlag ist schwer. Es läge an der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, endlich eine Autorin aus einem anderen Kulturkreis mit dem Büchner-Preis auszuzeichnen. Auswahl gäbe es da – auch dank der Arbeit der Bosch-Stiftung – reichlich. Der Chamisso-Preis in seiner bisherigen Form hat ausgedient.
Das Gute behält die Bosch-Stiftung konsequenterweise bei: das Programm, bei dem Autoren in Schulen gehen und Kindern zeigen, dass nicht alle deutschsprachige Schriftsteller deutschsprachig auf die Welt kommen. Dadurch werden sie zu Vorbildern und inspirieren womöglich eine neue Generation. Ilija Trojanow und José F.A. Oliver klagten in der FAZ, das würde sie auf eine „bildungspolitisch nützliche Rolle“ reduzieren. Aber eben diese wertvolle Arbeit kann der deutschsprachigen Literatur zugute kommen, sie mit Nicht-Arztsöhnen beleben, Kinder von syrischen Flüchtlingen oder englischen Übersetzerinnen beflügeln. Die Bosch-Stiftung könnte auch Eigeninitiativen von marginalisierten Autoren unterstützen; die Zeitschrift Freitext zum Beispiel möchte sich wiederbeleben. Wer Geld zu verteilen hat, wird es nicht schwer haben, Projekte aufzutun. Der Chamisso-Preis schafft sich ab, und das ist gut so – aber wir dürfen auf ihre Weiterexistenz gespannt sein.