Für mein Gefühl
bin ich mehrfache Außenseiterin im deutschen Literaturbetrieb. Ich bin nicht in
Deutschland aufgewachsen, deutsch ist nicht meine Muttersprache. Ich bin
Übersetzerin und keine Autorin oder Kritikerin. Ich bin atheistisch erzogen, in
der dritten Generation. Ich bin Mutter, halbzeit-alleinerziehend, auch das in
der dritten Generation. Ich habe Freunde, die keine Bücher lesen. Ich bin nicht
verheiratet, war es nie, und habe gerade keinen Partner. Was ich auch nicht
habe, um an Sabine Scholl anzuknüpfen, ist einen Bildungsbürgerhintergrund.
Ich komme aus London.
Dort reden wir noch über Klasse, manchmal vereinfachend; dabei ist das Thema
gar nicht so geradlinig. Meine Eltern sind typische Aufsteiger, haben die
Klasse gewechselt als die Gesellschaft in den 60ern durchlässiger wurde. Die
Mutter bekam mit elf ein Stipendium für begabte Arbeiterkinder, besuchte eine
Internatsschule, fühlte sich sieben Jahre lang fehl am Platz. Zu Hause
arbeitete ihr Vater als Lastwagenfahrer und die Mutter als Dienstmädchen und
Putzfrau. Mit ihrer guten Schulbildung ausgestattet, fing meine Mutter ein
Studium an – hörte aber schnell wieder auf, weil sie meinen Vater vermisste. Er hatte die
Schule mit sechzehn abgebrochen, landete nach einer Weile dank
Vollbeschäftigung auf den Füßen und lernte Tontechniker bei der BBC. Seine
Mutter hatte ihre drei Söhne alleine aufgezogen, war Stenotypistin bei der
Post, während ihr Exmann in Fabriken arbeitete und in der kommunistischen Partei
aktiv war.
So waren meine
Eltern nirgendwo ganz zugehörig. Seine Arbeit und ihre Bildung trennten sie von
der Arbeiterklasse ab, schenkten ihnen aber nur oberflächliche, prekäre Bürgerlichkeit.
Sie kauften sich ein Reihenhaus, lasen sich Wissen an, mein Vater brachte sich
selbst Klavierspielen bei, meine Mutter machte Verwaltungsjobs und consciousness-building und studierte
dann doch mit vierzig Sozialwissenschaften, nachdem die beiden sich getrennt
hatten. Meine Schwester und ich wuchsen mit Büchern auf, aber auch mit Popmusik
und Fernsehen. Wir machten Amateurtheater, Pantomimes
in der Mehrzweckhalle, fuhren als Scheidungskinder nicht mehr ins Ausland
in den Urlaub sondern immer in verregnete englische Kleinstädte. Wir hatten
verschiedene Untermieterinnen, wie die Großeltern schon ihr Einkommen
aufgebessert hatten. Alles war gut, das Geld reichte meist knapp.
Und dann waren wir
dran: meine Schwester und ich studierten beide. Meine Mutter hatte gerade
rechtzeitig verhindert, dass wir die ersten Familienmitglieder an der Uni
waren. Meine Schwester wurde nicht fertig, ich schon. Sie arbeitet jetzt mit
älteren Menschen als eine Art ungelernte Sozialarbeiterin, ist auch
alleinerziehend, hat eine Behinderung und kommt damit klar. Alles ist gut, das
Geld reicht meist knapp. Bei mir sieht’s ähnlich aus, nur dass ich meine Arbeit
liebe und keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung habe. Den Bachelorabschluss
eingesackt, bin ich bloß schnell weg von der Uni, von England, ab nach Berlin.
Ich zog mit einem Gartenbaulehrling zusammen, er hatte eine Einraumwohnung in
Friedrichshain, mit Ofenheizung aber immerhin mit eigenem Badezimmer. Nachdem
wir uns trennten fiel er durch die Gesellenprüfung durch.
Nach weiteren
lebensbereichernden Brüchen begab ich mich nichtsahnend in deutsche Literaturkreisen.
Ich finde es hier schwer, Klassenhintergründe einzuschätzen; ich kann die
Zeichen immer noch schlecht lesen und die Deutschen reden auch nicht freiwillig
darüber. Florian Kessler hatte aber vermutlich recht mit seiner Ärztesöhne-Theorie.
Was ich gemerkt habe: man kennt sich mit klassischer Musik aus aber hört
textbetonten Indie-Pop. Man trägt keine knalligen Farben. Männer machen Witze,
Frauen lachen – aber nicht zu laut. Man reist viel und versteht was von Wein
aber trinkt selten über den Durst. Man flirtet nicht, höchstens sehr subtil und
am späteren Abend. Oder vielleicht steht man nur nicht auf mich, keine Ahnung. Jedenfalls
mache ich einiges falsch und fühle mich oft fremd in der Szene, manchmal wie
eine teilnehmende Beobachterin.
Und doch finde
ich immer wieder Räume, in denen ich mich wohlfühle. Manchmal sind sie
vorübergehend: Buchmessen, der ehemalige Salon von Adler und Söhne, bestimmte Lesungsreihen.
Oft liegt es an den Gastgebern, die sich wie zum Beispiel im LCB darum bemühen,
dass alle sich wohlfühlen. Das sind Orte, wo ich im pinken Kleid zu roten
Schuhen tanzen und Witze reißen kann, wo ich betrunken die letzte Bahn
verpassen kann und jemand nimmt mich im Taxi mit, wo ich zu viel von mir
erzählen kann, immer schön in der verpönten ersten Person, wo es auch mal
knallen darf. Manchmal erschaffe ich diese Räume selbst, in der Form eines
Blogs oder einer Veranstaltung. Ich will weiterhin einiges falsch machen.
Und es gibt
Leute, viele davon Frauen, die auch keine glatten Lebensläufe haben und die
sich gegenseitig unterstützen. Ich erhalte von vielen Frauen im
Literaturbetrieb Hilfe und Zuspruch: es sind andere Mütter, Alleinerziehende,
Feministinnen, Ausländerinnen, Übersetzerinnen, andere lautlachende, spaßverstehende,
talentierte Fettnäpfchentretende. Diese Frauen und Männer sind es, die mich in
diesem komischen Betrieb bei der Stange halten. I hope you know who you are.
Denn ja, der
deutsche Literaturbetrieb ist immer noch von bürgerlichen weißen Männern dominiert.
Es reicht also schon, eine Frau zu sein, um sich hier als Außenseiterin zu empfinden. Der Betrieb ist immer noch ein Ort, wo Frauen nach ihrem Aussehen verurteilt werden und
sich vielleicht deswegen selten trauen, Körperlichkeit in ihrem Schreiben zuzulassen.
Wo sie sich auch selten trauen, Wut zu zeigen, radikal zu denken, reden und
schreiben. Deswegen freue ich mich so sehr, dass ehemalige und jetzige
Schreibschulstudierende über die Bedingungen dort klagen. Ich glaube, ich bin
nicht die Richtige, um über Sexismus-Erfahrungen im Betrieb zu erzählen, denn
ich stecke wie gesagt nicht richtig drin und möchte es auch nicht unbedingt. Ich
bin nicht vom Wohlwollen der bürgerlichen weißen Männern abhängig, jedenfalls
nicht der deutschen.
Aber ich
beobachte vom Rande und wünsche mir, dass Frauen es leichter haben,
erfolgreiche Schriftstellerinnen zu werden, damit ich ihre Bücher übersetzen
kann. Bücher von Menschen ohne glatten Lebensläufe, wie einige der Autorinnen,
die ich übersetzt habe und übersetzen werde: Inka Parei, Annett Gröschner,
Christa Wolf, Helene Hegemann, Rusalka Reh, Olga Grjasnowa, Heike Geißler. Und
denkt noch an diese anderen geilen Schreibbräute: Katja Lange-Müller, Herta
Müller, Julia Franck, Emine Sevgi Özdamar, Judith Hermann, Sharon Dodua Otoo, Antje Rávic Strubel...
Ich wünsche mir mehr, noch mehr, ich möchte baden in Büchern von unangepassten Autorinnen.
Passt euch meinetwegen
bloß nicht an. Schreibt nicht brav, schreibt mit Pathos oder Wut oder Witz oder
Experimentierlust. Macht dasselbe im Leben. Helft euch gegenseitig, heißt
andere Frauen willkommen. Seid eure eigene Seilschaft. Macht das
Außenseitersein zur Tugend, erklärt euren Literaturbetrieb zur
Außenseiterinnenrepublik. Seid geschmacklos und verhaltet euch falsch.